Erwartungen - Ziele - Methoden
Erwartungen
Ein Austausch über die Erwartungen, die LehrerInnen und SchülerInnen mit dem Besuch verbinden, hilft zu vermeiden, dass unangemessene Voraussetzungen auf beiden Seiten zu Enttäuschungen beim Besuch führen.
Mit einem Fragebogen z.B. können die Anliegen der SchülerInnen zum Besuch erhoben werden. Darin sollten auch die Gefühle angesprochen werden, mit denen dem Gedenkstättenbesuch entgegengeblickt wird. Schriftlich festgehaltene Erwartungen vor dem Besuch sind eine hilfreiche Grundlage für die Bearbeitung von Erfahrungen nach dem Besuch.
Wichtig ist es im Vorfeld des Besuches, mit SchülerInnen die Frage der „Authentizität" des Ortes, die Unterscheidung von historischem Konzentrationslager und heutiger KZ-Gedenkstätte mit ihren Relikten, Friedhöfen, Denkmälern und Museen zu besprechen, damit sie ein realitätsnahes Bild des Ortes bekommen, den sie besuchen werden (siehe Themen). Daran knüpft sich auch die gemeinsame Überlegung, welches Verhalten dem Ort angemessen ist.
Im Gegenzug sollten sich LehrerInnen von der Erwartung trennen, dass der Ort bei ihren SchülerInnen unbedingt Erschütterung bewirken muss (siehe Emotionen).
Gedenken
Die Beschäftigung mit der Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers am Ort geht immer mit der Wahrnehmung der heutigen KZ-Gedenkstätte einher. Manifestationen des Gedenkens prägen den Ort sehr stark.
Denkmäler und Gedenktafeln eignen sich für entdeckendes Lernen mit Beobachtungs- und Interpretationsaufgaben. Die Auseinandersetzung mit der Gedenkkultur in Mauthausen und mit ihrer Geschichte kann so zu einem eigenen Schwerpunkt werden, der vielleicht Fragen aufwirft wie: Welche Bedeutung hat die KZ-Gedenkstätte in der Öffentlichkeit? Welche für mich? Was heißt für mich Gedenken?
Die KZ-Gedenkstätte ist Gedenkort und Lernort zugleich. Beide Funktionen sind schwer miteinander in Einklang zu bringen, weil sie unterschiedliche Ziele, Atmosphären und Verhaltensformen verlangen.
Wenn die Gruppe das Bedürfnis nach einem feierlichen Abschluss des Besuches hat, wäre ein kleines vorbereitetes (religiöses oder säkulares) Gedenkritual möglich, in dem z.B. Texte gelesen oder Steine auf ein Denkmal gelegt werden.
Besonders für einen zweiten Besuch mit der Gruppe käme z.B. eine Gedenkwanderung zur und durch die KZ-Gedenkstätte in Betracht, bei der an festgelegten Stationen von SchülerInnen passende Auszüge aus Erinnerungsberichten vorgelesen werden. Den Opfern eine Stimme geben - eine genuine Aufgabe von KZ-Gedenkstätten.
Bezug zum Ich
Das anspruchsvollste Ziel eines Gedenkstättenbesuches besteht darin, dass der Schüler oder die Schülerin zur Überzeugung kommt: „Das hat mit mir zu tun": Er oder sie begreift das Erfahrene als Herausforderung für das eigene Denken, Fühlen und Handeln. Darin besteht die Triebkraft für eine selbständige Befassung mit der Geschichte.
Eine Initialzündung dafür kann die Entdeckung sein, dass es Bezüge zur eigenen Lebenswelt gibt, z.B. die geographische Nähe des eigenen Wohnortes zu einem Lager oder familiäre Tradierungen zu Mauthausen und zum historischen Kontext.
Widersprüche zwischen Perspektiven und Erzählungen, Dissonanzen zwischen dem eigenen Geschichtsbild und den vermittelten Informationen können mitunter als produktive Irritationen wirken (siehe Dissonanzen).
Eine besondere Rolle für den Bezug zum Ich spielt die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Perspektiven von Opfern, Tätern und Umwelt. Ich-Anteile in diesen Perspektiven werden erfahrbar und kritisch diskutierbar, ohne dabei das Ich in Identifikation mit anderen aufzulösen (siehe Perspektivenwechsel). Begegnungen mit Zeitzeugen oder die Arbeit mit lebensgeschichtlichen Zeugnissen in der Vor- und Nachbereitung fördern diesen Prozess. Die anschauliche Erfahrung von historischen Perspektiven und Situationen beim Besuch der KZ-Gedenkstätte kann schließlich Fragen wachrufen, die nachwirken: Was hätte ich getan? Wie verhalte ich mich heute?
Auch die Beschäftigung mit der Stein gewordenen Gedenkkultur in Mauthausen wirft vielleicht Fragen auf: Welche Bedeutung messe ich der KZ-Gedenkstätte bei? Was bedeutet Gedenken für mich? (siehe Gedenken)
Durch Texte, die nach dem Gedenkstättenbesuch geschrieben werden, sei es als Tagebucheintragung, Brief, Betrachtung oder Gedicht, können sich die SchülerInnen solche Ich-Bezüge bewusst machen und in den Austausch mit anderen eintreten.
Politische Bildung
Ein Gedenkstättenbesuch ist immer auch im größeren Rahmen der politischen Bildung zu sehen.
Die Geschichte des Konzentrationslagers bildet die Negativfolie für Kernthemen der politischen Bildung: Bedeutung und Unteilbarkeit der Menschenrechte, Rechte von Minderheiten, die Funktion der Gewaltentrennung im Staat, Aufklärung gegen Rassismus und Antisemitismus, Medien und Propaganda, die Bedeutung von Zivilcourage für eine demokratische Gesellschaft, Erinnerungskultur in Österreich und die Rolle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen darin.
Darüber hinaus lassen sich auf einer sozialpsychologischen Ebene am Konzentrationslager als extremem Modell die sozialen Mechanismen erkennen, wie z.B. der Wunsch (der Täter) nach Anerkennung und Karriere moralische Schwellen senkt, wie Mitwisserschaft (der Umgebung) sich von Mitverantwortung befreit fühlen kann, wie in Herrschaftsmustern Zwang und Privilegierung (bei den Funktionshäftlingen) zusammenwirken, wie die sprachliche Entwürdigung von Menschen der tatsächlichen vorangeht (siehe Themen).
Solche Gegenwartsbezüge können in der Vor- und Nachbereitung entfaltet werden. Sie gewinnen an Gehalt, wenn die historischen Anknüpfungspunkte möglichst konkret sind.
Perspektivenwechsel
Die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust ist als Geschichte von unterschiedlich denkenden und handelnden Menschen zu beschreiben. Sie setzt sich zusammen aus den Perspektiven der Opfer, der Täter und der Umgebung.
Auch für die Vor- und Nachbereitung eines Gedenkstättenbesuches ist der Wechsel zwischen diesen Perspektiven von zentraler Bedeutung (siehe Themen). Autobiographische und biographische Materialien, z.B. in Form von Interviews oder literarischen Texten, öffnen den Blick in die Tiefenschichten der jeweiligen Perspektive. So wird Empathie ermöglicht, ohne Distanz und Kritikfähigkeit aufzugeben. Entscheidungsspielräume und Dilemma-Situationen werden erkennbar.
Erst durch den Perspektivenwechsel erhält die Geschichte ihre Qualität als „human story". Er erlaubt es den SchülerInnen, den Anteil, der von ihnen in jeder Perspektive steckt, zu entdecken und zu reflektieren.
Dissonanzen
SchülerInnen bringen zum Themenkomplex Nationalsozialismus und Holocaust familiär und medial vermittelte Geschichtsbilder mit, die sowohl dem Unterricht als auch dem Gedenkstättenbesuch vorgelagert sind. Auch die vorhandenen Vorstellungen über das Konzentrationslager Mauthausen werden vielfach nicht mit den in der Vorbereitung vermittelten Informationen und mit den in der KZ-Gedenkstätte gewonnenen Eindrücken übereinstimmen.
Solche Erfahrungen der Dissonanz sind zwiespältig. Wenn die Diskrepanz zwischen Mitgebrachtem und Neuem zu groß ist, werden die neuen Informationen verweigert und abgewehrt. Auf der anderen Seite können Dissonanzen nachhaltige Reflexion in Gang setzen.
So könnten z.B. die Darstellung der vielfältigen Verflechtung von Lager und Umgebung, die Differenzierung der Häftlingsgruppen, die Komplikation des Widerstandsbegriffes und der Blick auf die erschreckende „Normalität" der Täter (siehe Themen) bei SchülerInnen Dissonanz-Erfahrungen auslösen, die sich dann in der Nachbereitung des Gedenkstättenbesuches vielleicht zur kritischen Beschäftigung mit Geschichtsbild und Selbstbild entwickeln.
Kenntnisse
Ein Gedenkstättenbesuch setzt historische Grundkenntnisse voraus, die es den SchülerInnen erlauben, das Gesehene und Gehörte in eine Struktur einzubauen. In der Vorbereitung des Gedenkstättenbesuches sollten daher mit Hilfe von Texten, Fotos und Filmen historische Themen behandelt werden: Aufstieg und Ideologie des Nationalsozialismus, Verfolgung und Widerstand, SS, KZ-System, „Anschluss" Österreichs, Zweiter Weltkrieg, „Euthanasie", Holocaust. Über dieses allgemeine Kontextwissen hinaus sollten die SchülerInnen vor dem Besuch bereits Basiswissen zum Konzentrationslager Mauthausen besitzen: zu historischen Eckdaten, Standortwahl, Außenlagern, Opfergruppen, Konzentrationslager-SS, „Mühlviertler Hasenjagd", Befreiung, Gedenkstätte.Die Vertiefung zentraler Themen und Fragestellungen (siehe Themen) ist sowohl in der Vorbereitung als auch in der Nachbereitung denkbar.
Wahrnehmungen
LehrerInnen besuchen mit ihren Klassen die KZ-Gedenkstätte, um Einsichten in Ursachen und Zusammenhänge der NS-Verbrechen anschaulich zu verankern. Die Wahrnehmung des Ortes ist dazu wesentliche Voraussetzung. Im Unterschied zu den Emotionen der SchülerInnen, die nicht didaktisierbar sind (siehe Emotionen), kann die genaue Wahrnehmung der Gedenkstätte methodisch gefördert werden.
Vorbereitete Beobachtungsaufgaben zu Bereichen der Gedenkstätte können Grundlage für die Erschließung von Themen und für Diskussionen sein: z.B. Beobachtungen zur Lage und zum Umfeld des Lagers, zu baulichen Relikten wie Mauern, Türmen und Baracken, zu den Denkmälern und Gedenktafeln oder zum Verhältnis von sichtbaren und heute unsichtbaren Teilen des ehemaligen Konzentrationslagers (siehe Themen).
Eine ganz freie Erkundung der KZ-Gedenkstätte wird älteren SchülerInnen mit Vorwissen vorbehalten bleiben, die gut einschätzen können, dass die Erkundung ein Baustein für weitere Phasen der Auseinandersetzung mit der Thematik ist.
Nachhaltigkeit
Ein bescheiden klingendes und schwer zu erreichendes Ziel eines Gedenkstättenbesuches, ein Ziel mit großer Tragweite, das auf den historischen Zivilisationsbruch verweist, mit dem wir es zu tun haben, formuliert Wolf Kaiser so:
„Aus einer Gedenkstätte die Einsicht mitzunehmen, dass der Nationalsozialismus und die NS-Verbrechen nicht in ein paar Unterrichtsstunden ‚durchzunehmen' oder bei einem Gedenkstättenbesuch ‚abzuhaken' sind, ist ein wichtiger Lernerfolg."*
*Wolf Kaiser: Gedenkstätten als Lernorte. Ziele und Probleme. Vortrag im Oktober 2000 im Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin. http://www.ghwk.de/deut/tagung/kaiser.htm