Nachruf: Daniel Chanoch (1932–2024)
04.10.2024
Angelika Schlackl, Vermittlerin an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, erinnert an den Zeitzeugen.
Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen trauert um Daniel Chanoch, der am 29. September 2024 im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Aus ganzem Herzen möchten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Familie Chanoch in Israel ihr großes Mitgefühl zum Ausdruck bringen.
Jede Begegnung mit Daniel Chanoch, der ein Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen und seines Außenlagers Gunskirchen war, ist unvergessen, ob bei Gedenkfeierlichkeiten anlässlich der Befreiung in Gunskirchen oder bei persönlichen Gesprächen, wie sie auch in seiner Heimat Israel stattfanden. Unvergessen ist seine Freundlichkeit, seine Herzlichkeit, seine Sprachgewandtheit und Weltoffenheit, seine Lebensweisheit, aber auch Bestimmtheit, sein Erzählen, das jeden in den Bann zog und neben Humor auch immer wieder mit Sarkasmus gewürzt war. – Blickt man auf Daniel Chanochs Vergangenheit, dann führt sie vor Augen, dass sich im Alter von 9 bis 13 Jahren unsagbare Bilder des Schreckens der NS-Verbrechen in seine Kinderseele eingeprägt haben und so konnte man ihn für seine starke Persönlichkeit nur bewundern.
„Erzählen um zu leben“ war eine von Daniel Chanochs Devisen und wurde zum Buchtitel seiner Biografie, die 2022 erschienen ist. Erzählen und in seinen Bann ziehen war eine seiner herausragenden Begabungen. Da er in mehreren Filmproduktionen als Zeitzeuge mitwirkte, bleiben diese auch für immer erhalten, wie im jüngsten Film „A Boy’s Life“, der 2023 in Österreich veröffentlicht wurde. Eindrucksvoll erzählt Daniel Chanoch 90-jährig seine Lebensgeschichte.
Im Juni 1941 führte der Machthunger der Nationalsozialisten zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Litauen. In Daniel Chanochs Heimatstadt Kovno, zu Deutsch Kaunas, mussten alle Juden ins Ghetto, so auch die Familie Chanoch. Drei Jahre verbrachte sie dort. Der junge Daniel überlebte nur knapp eine „Kinderaktion“, weil er sehr schnell laufen und sich mit Hilfe eines Juden verstecken konnte. Im Juli 1944 wurde das Ghetto geräumt und Familie Chanoch abtransportiert. Auf dem Weg nach Dachau hielt der Zug noch im KZ Stutthof und alle Frauen mussten den Zug verlassen. Von da an sah Daniel seine Mutter Frida und seine Schwester Miriam nie mehr.
Für die Männer endete die Deportation in Landsberg, einem Außenlager von Dachau. Tage später wurde inzwischen 12-jährige Daniel von seinem Vater Shraga und Bruder Uri getrennt und mit 130 verzweifelten Kindern nach Dachau verlegt. Ein älterer Junge nahm sich der Kindergruppe an, leitete sie an, wie sie im Lager überleben könnten und stärkte ihren Zusammenhalt. Ihr militärisch anmutender Drill imponierte der SS, sogar als die 131 Jungs im August 1944 zur Ermordung in Auschwitz-Birkenau eintrafen. Man ließ sie am Leben. Sie sollten an der Rampe Karren ziehen, persönliche Habseligkeiten der Deportierten einsammeln oder die Leichen aus den Zügen holen. Daniel erzählte, wann immer einer schwach wurde, halfen ihm die anderen und das schweißte sie als Gruppe zusammen. “Einer für alle, alle für einen” und so entgingen sie so manchen Misshandlungen der SS. Jedoch war der Tod immer präsent. Mitte September wurden 60 der 131 Jungs abgeholt und kamen nie mehr wieder. Das nächste Mal blieben nur mehr 40 zurück. – „Das Leben ist eine Frage von Sekunden und Millimetern!“ wurde ein Leitsatz für Daniel Chanoch.
Die Gruppe wurde kleiner, ihr Zusammenhalt aber blieb stark, selbst im eisigen Winter, als sie nach mehrtägigem Todesmarsch und Weitertransport im offenen Viehwaggon am 30. Jänner 1945 in Mauthausen eintrafen. Hier erlebten die Kinder Schikanen bei stundenlangem Appellstehen im Regen oder eisiger Kälte. Daniel erzählte von überfüllten Baracken, Misshandlungen durch Capos, Brot aus Sägespänen, von Wachhunden, die Flüchtende in Stücke rissen und vieles mehr. Zwei Monate lang erlebte er diese Hölle im Hauptlager, im Zeltlager und auf dem Todesmarsch. Das „Todeslager“ Gunskirchen war schließlich für ihn das Schlimmste von allem. – Einzig der Zusammenhalt der Kinder, ihre „Solidarität“, war für ihn „eine lebensrettende Kraft“, was er in seinen Erzählungen immer und immer wieder betonte.
Am 4. Mai 1945 von der 71. Infanterie-Division der 3. US-Armee befreit streunte Dani mit seinem Freund Yankele in der Gegend umher. Ihr Hunger war so groß, dass sie bei Bauern Hühner stahlen, bis sie schließlich nach Hörsching gelangten und sich in der Offiziersmesse „einquartierten“. In Hörsching-Neubau befand sich ein großes US-Militärspital, in dem eines Tages die jüdische Brigade auftauchte. Vom Angebot, mit ihrer Hilfe nach Erez Israel gebracht zu werden, war Daniel begeistert und machte sich auf den Weg nach Italien, wo die Brigade stationiert war. Dort erwartete ihn eine große Überraschung. In einem Durchgangslager nahe Bologna gab es ein Wiedersehen mit seinem großen Bruder Uri. 1947 verließen die Brüder Italien und wanderten illegal in Palästina ein. Was Daniel in seinem neuen Leben erwartete, war alles andere als einfach, jedoch seine Hoffnung, seine Robustheit, sein Einfallsreichtum und seine Belastbarkeit ließen ihn Schritt für Schritt in ein mehr oder weniger normales Leben zurückkehren. Er holte seine verlorenen Ausbildungsjahre nach, studierte in den USA Landwirtschaft, kehrte zurück nach Israel, pflanzte Weingärten und Dattelbäume und gründete eine Familie, auf die er sehr stolz war.
Daniel Chanoch mit zwei Freunden aus den USA in Gunskirchen. Rechts im Bild: die Verfasserin
Die Jahre vergingen. „Daniel hat den Holocaust hinter sich gelassen, aber der Holocaust hat ihn nicht hinter sich gelassen“, liest man in seiner Biografie. „Die Erinnerungen blieben in seinem Kopf, also suchte er nach einem Ausweg, der ihn schließlich dazu brachte, sich der Aufgabe zu widmen, die Erinnerung zu bewahren. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Thema Solidarität als lebensrettendes Verhalten im Lager.
Im Lauf der Jahre nahm Daniel Chanochs Bedürfnis nach Gedenken, Geschichten, Lernen und Dokumentation des Themas Holocaust in den verschiedenen Aspekten zu“, schrieb sein Biograf. „Eine ungeplante Reise nach Österreich während eines Italien-Urlaubs führte ihn zum Gedenken an das Todeslager nach Gunskirchen. Dort stellte sich heraus, dass nicht einmal eine Spur der schrecklichen Ereignisse von 1945 im Wald zu finden war.“ Mit großer Entschlossenheit wandte sich Daniel Chanoch 1980 an den Bürgermeister und erteilte ihm am Tatort ‚Unterricht‘ über die Geschichte des Waldes. – Man versprach ihm damals ein Denkmal zu errichten. Der „Holocaust-Lehrer“ Daniel Chanoch aber wollte mehr als nur ein Denkmal und wurde bis zu seinem Tod nicht müde, darauf zu bestehen, dass vor Ort eine „pädagogische Erinnerungsstätte der Schoah“ entsteht. Dafür nutzte er jede Gelegenheit, um Menschen zu treffen, die dieses Ziel voranbringen.
Angelika Schlackl am 4. Oktober 2024